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Die Angst vor dem grossen Plan

Wettbewerb Gross-Zürich, Allgemeiner Bebauungsplan von Hippenmeier und Bodmer © Baugeschichtliches Archiv

25 janvier 2022
Balz Halter | D'un point vue personnel

Die Angst vor dem grossen Plan

Die Agglomeration ist das Dilemma unserer Raumplanung. Wir drücken uns seit sechs Dekaden um den Entscheid ob Stadt oder Land. Stattdessen überlässt das Gemeinwesen die Orts- und Stadtplanung den privaten Bauträgern. Sie sind dann die Schuldigen für gesichts- und uferlose Siedlungsentwicklung. Es ist Zeit, dass Politiker wieder den Mut finden, den grossen Plan über Gemeindegrenzen hinaus zu initiieren und die Diskussion über Landschafts- und Siedlungsplanung in und mit der Öffentlichkeit zu führen.

‚Ostermundigen ist überall’. Unter diesem Titel analysierte Benedikt Loderer im Komplex-Magazin 2014 (https://issuu.com/halterag/docs/komplex_nr7_2014, Seite 68) in prägnanter, erbarmungsloser und lesenswerter Art den Raum, in dem rund 70 Prozent der Schweizer Bevölkerung wohnt. Er ist nicht Stadt, nicht Dorf, nicht Land. Er ist das Dazwischen. Wir nennen ihn vielsagend Agglomeration. Loderer beschreibt seine Entstehung, seine Ausprägung, seine kulturelle Einfalt, seine Austauschbarkeit. Er geisselt, worauf bereits vor sechs Dekaden Lucius Burckhardt, Max Frisch und Walter Kutter in ihren ‚Basler Politischen Schriften’ besorgniserregt hingewiesen hatten, und dessen Weiterentwicklung sie eigentlich zu vermeiden suchten. Heute erweist sich ihre Schriftreihe von 1953 bis 1956 so aktuell wie eh und je, worauf auch Ludmila Seifert in ihrem Blog-Beitrag ‚Raumplanung neu denken’ mit dem Hinweis auf den 2017 erfolgten Reprint eingeht.

Die Angst vor dem grossen Plan

Ostermundigen ist auch im Limmattal © Timon Furrer

Gefangen im Dilemma

Agglomeration hat keinen Anfang und kein Ende, ufert aus, folgt keinem Plan. Agglomeration ist das Dilemma unserer Raumplanung: die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, die beide zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. Die eidgenössische und kantonale Raumplanung sind in diesem Dilemma gefangen, genauso wie die meisten Gemeinden: Sie drücken sich um den Entscheid ob sie Stadt oder Land sein wollen. Wer nicht entscheiden kann oder will, plant nicht, nicht den Siedlungsraum und nicht den Landschaftsraum. Er lässt geschehen.

Akteure sind fast ausschliesslich private Bauträger, die nach den geltenden, generell-abstrakten, d.h. undifferenzierenden Bau- und Zonenvorschriftenden bauen. Oder Immobiliengesellschaften und -entwickler, die in die Bresche springen und sich dem Ziel, die Ausnützung zu erhöhen der Stadt- und Ortsplanung annehmen. Sofort wird klar: Die Schuldigen für eine unstrukturierte, identitäts- und uferlose Siedlungsentwicklung sind die Akteure, die kulturlosen Häuslebauer und die gewinnsüchtigen Immobilienspekulanten.

Doch sind sie wirklich schuld? Oder sind es womöglich wir, die Bürger, die Politik, das Gemeinwesen? Durch Unterlassung?

Die Angst vor dem grossen Plan

Plakat zur Ausstellung von Albert Heinrich Steiner, Stadtbaumeister von Zürich, für die Bevölkerung organisiert, zum Anlass des 19. Internationalen Kongress für Wohnungsbau und Städteplanung 1948

© gta Archiv / ETH Zürich, Albert Heinrich Steiner

Allzweckwaffe Sondernutzungsplan

Anstatt die Ortsplanung an die Hand zu nehmen, zwingen die Gemeinwesen private Bauträger, die die an sich gewünschte innere Verdichtung umsetzen wollen, auf den Weg der Sondernutzungsplanung, meist mit der Bedingung des Architekturwettbewerbs. Erfahrungsgemäss haben es derartige, privatwirtschaftlich motivierte Bauvorhaben schwer vor der Gemeindeversammlung oder an der Urne, selbst wenn sie umsichtig, nachhaltig und unter Einbezug der Quartierbewohner geplant sind. Schafft ein Sondernutzungsplan dennoch die hohe Hürde der Demokratie, wirkt er nicht selten als Fremdkörper, als urbane Insel, weil er keiner übergeordneten Idee entspringt. Der Bauträger kann nur innerhalb seines Hoheitsgebiets planen. Und das endet an der Parzellengrenze.

Die Angst vor dem grossen Plan

Inselurbanismus in der Agglomeration, Dietikon Limmatfeld © Google Earth

Der Richtplan soll’s richten

Als wertvolles Instrument hat sich der Richtplan erwiesen. Er formuliert Strategien über Dichten, Nutzungen, Erschliessungen etc. Es handelt sich dabei allerdings um ein abstraktes Instrument, das sich an administrativen und nicht an funktionalen Grenzen orientiert. Der Richtplan ist zweidimensional, entzieht sich gestalterischen Festlegungen und entfaltet keine direkte Wirkung für Grundeigentümer. Mass der Abstraktion und Unverbindlichkeit sind die Schlüssel zur parlamentarischen oder direktdemokratischen Legitimation. Sie sind aber auch der Grund, dass der Richtplan keine Vision entwickelt, keine Bilder schafft, keine gestalterische Qualität gewährleistet und sich wichtiger Fragen zur Bedeutung, Ausstrahlung und Identität von Orten, Quartieren, öffentlichen Räumen und Naturlandschaften entzieht. Er setzt sich nicht mit Silhouetten, Sichtbeziehungen und Atmosphären auseinander. Es mangelt ihm an Emotionalität und Relevanz, um die Bevölkerung zu involvieren und an der Gestaltung ihrer Umgebung teilhaben zu lassen. Ähnlich abstrakt und generisch erfolgt die Transformation in die Bau- und Zonenordnungen. Zentrale Fragen der Ausgestaltung von Plätzen, Strassen, Parks und Promenaden werden vermieden. Stattdessen werden gestalterische und qualitätssichernde Aufgaben über Sondernutzungsplanpflichten an die Bauträger delegiert.

Wer hat den Mut zum grossen Plan?

Es ist offensichtlich: Es fehlt das Instrument des grossen Plans, der über administrative Grenzen hinaus in funktionale Räume reicht. Der von einer Vision getragen, den Landschafts- und Siedlungsraum in die Zukunft denkt, bestehende Qualitäten sichert und neue schafft. Der in den dreidimensionalen Raum plant und Bilder generiert, die Vorstellungsvermögen, Emotionalität und die räumlichen Empfindungen der Menschen ansprechen und diese dazu inspiriert, sich in der Ausgestaltung ihrer Quartiere miteinzubringen.

Der grosse Entwurf, der übergeordnete Plan ist die Basis einer breit abgestützten, über Fachgremien hinausgehenden Diskussion über die angestrebten Qualitäten, Identitäten und Funktionen. Er müsste die Grundlage, die Prämisse aller darauffolgenden Richtpläne, Bauordnungen und öffentlich-rechtlichen Spezialpläne sein.

Die Angst vor dem grossen Plan

Hochschulquartier für Zürich: Hermann Herter’s Vorschlag für einen weiteren Ausbau der Universität und der Eidgenössische Technische Hochschule, im Rahmen des Wettbewerbs Gross-Zürich 1915

© Baugeschichtliches Archiv

Emil Klöti und seine Zürcher Stadtratskollegen bewiesen 1915 viel Weitsicht und Mut, als sie sich entschieden, einen öffentlichen, internationalen Wettbewerb über die Stadtgrenzen Zürichs hinaus zu veranstalten und diesen ihren Bürgern zur Diskussion zu unterbreiten. Auch wenn die Siegerprojekte nicht umgesetzt wurden, so ist der Gewinn für die Stadt und die Vorortsgemeinden auch in der Retrospektive unbestritten. (Mehr dazu unter https://www.komplex-magazin.ch/de/artikel/mut-zur-metropole)

Welche Stadt- und Gemeindepräsidenten in der Schweiz finden wieder den Mut, gemeinsam über administrative Grenzen hinweg einen öffentlichen Wettbewerb zu veranstalten und sich so der Diskussion mit der Bevölkerung zu stellen, Grundlagen zu schaffen für eine hochstehende, zukunftstaugliche Landschafts-, Stadt- und Siedlungsplanung?

Die Angst vor dem grossen Plan

Zusammenwachsen - Landschaf(f)tstadt: Internationaler Städtebaulicher Ideenwettbewerb Berlin-Brandenburg 2070 von 2019; 1. Preis Bernd Albers Gesellschaft von Architekten mbH, Vogt Landschaft GmbH, Arup Deutschland GmbH (https://unvollendete-metropole.de/wettbewerb-berlin-brandenburg-2070)

© Bernd Albers, Silvia Malcovati, Günther Vogt

Balz Halter

Balz Halter, *1961 in Zürich, ist Bauingenieur und Jurist und leitet seit 1987, heute als Verwaltungsratspräsident, das Bau- und Immobilienunternehmen Halter AG. Er ist zudem Vizepräsident des Stiftungsrates der Stiftung Baukultur Schweiz.

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